Noah ist immer ein netter Kerl gewesen, immer freundlich, immer hilfsbereit, oft ein fröhliches Lied auf den Lippen, und wenn’s mal nicht so lief, wie gewünscht, dann hatte er einen Scherz parat, der ihn und andere über den Tag rettete. Es gab nichts an ihm auszusetzen. Er war ein Nachbar, wie er im Buche steht, bis zu dem Tag, an dem er plötzlich den Verstand verlor. Wie anders soll man es bezeichnen, wenn einer, der nicht gerade den Hobel erfunden hat, seine eigene Garageneinfahrt mit einer Zimmermannsarbeit blockiert, die immer größere Ausmaße annimmt und schließlich nicht nur den Vorgarten mit Beschlag belegt, sondern das gesamte angrenzende Straßenstück gleich mit?
Unmut machte sich im Viertel breit. Zeitraubende Umwege erregten den Zorn der Bürger. Die Polizei wurde eingeschaltet. Umsonst. Noah muss ziemlich gute Beziehungen haben, dass er mit dieser Geschichte durchkommt, jedenfalls bis jetzt. Der Verkehr wurde kurz nach Beginn von Noahs Aktion umgeleitet, die Straße vor seiner Haustür zur Sackgasse erklärt. Vergeblich sammelte eine kurzfristig ins Leben gerufene Bürgerinitiative Unterschriften gegen ihn und das seltsame, hölzerne Gebilde, das er schuf.
Die Schulkinder schmierten Farbe und Kreide darauf und sprayten es mit Graffiti voll. Doch Noah ließ das kalt. Wichtig schien ihm nur die rechtzeitige Fertigstellung seines ständig wachsenden Bauwerks. Er tue es nicht nur für sich, betonte er immer wieder. Aber den Namen seines Auftraggebers könne er nicht preisgeben, geschweige denn den Anlass. Geheime Staatssache oder sowas. Eine gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für ihn allein, so scheint es. „Da werden wieder Gelder verschleudert, und das mit unseren Steuermitteln,“ beklagte sich so mancher, seinem Gegenüber am Stammtisch damit in den Ohren liegend.
Das Ding, wie es zunächst der Einfachheit halber genannt wurde, und an dem Noah herumbastelte, nahm mehr und mehr Gestalt an. Doch was war das für ein Ding? Die Gerüchteküche brodelte: Fast-Food-Filiale? Fitness-Center? Abenteuerspielplatz für die Gören der Nachbarschaft, die sich einen Jux daraus machen, Noah zu ärgern, wo sie nur können? Wohl kaum. Neue Disco? Als ob´s nicht schon genug davon gäbe. Parkhaus oder Kaufhaus? Niederlassung einer unbekannten, ausländischen Hotelkette? Speiselokal? Oder Spielhölle für besser Betuchte? Die Spekulationen sprossen aus dem Boden wie das Ding, das langsam die Form eines riesigen Bootes annahm. Und jeder fragte sich, was Noah, diese ausgeprägte Landratte, wohl damit beabsichtigte? Nein, das ergab keinen Sinn!
Würstchenbuden wurden am Rande von Noahs Grundstück errichtet, Döner- und Getränkestände aufgeschlagen. Wettbüros öffneten ihre Pforten, wo Wetten über den Zeitpunkt der Fertigstellung, sowie über den eigentlichen Anlass von Noahs Bautätigkeit abgeschlossen wurden.
Am Wochenende kamen Ausflügler aus allen Landesteilen, um sich ihre Langeweile zu vertreiben. Kamerateams fanden sich ein, beobachteten ihn auf Schritt und Tritt, baten ihn um Interviews, die er zunächst verweigerte, dann notgedrungen und unwillig sich abringen ließ, ohne dass jemand aus seinen Antworten klüger geworden wäre, als aus den öffentlichen Verlautbarungen der Politiker. Zumindest darin ist er ihnen jetzt schon ebenbürtig.
Es blieb allen ein Rätsel, was er vorhat, und wer letztlich dafür verantwortlich zeichnet, dass er an dem Ding weiterbauen darf. Sämtliche eingereichten Petitionen wurden entweder gar nicht beantwortet oder abschlägig beschieden. Die Gerichte waren sowieso überlastet, so dass die Chancen, ein juristisches Verfahren gegen ihn einzuleiten, gegen Null gingen. Während andere für kleinste Vergehen ins Gefängnis wandern, genießt Noah offensichtlich Narrenfreiheit. Sein ganzes Verhalten drückt etwas Freies, Ungebundenes, dabei Entschiedenes aus, wie ein Verrückter, der sich für Napoleon hält. Es kümmert ihn nicht mehr, was die Leute sagen. Er bastelt unaufhörlich weiter an seiner „Arche“, wie er selber das Ding in einem offenherzigen Moment einmal nannte. Was ist das, eine „Arche“? Kein Ahnung! Er verliert kein Wort darüber. Stattdessen hämmert und sägt er inzwischen sogar nachts daran herum, als ob er tatsächlich einen Zeitplan einhalten müsse.
Soweit ich das überblicke, geht Noah auch keiner geregelten Arbeit mehr nach, obwohl ich mich täuschen kann. Ich habe ja noch anderes zu tun, als mich um den Spleen meines Nachbarn zu kümmern. Vielleicht geht seine Frau auch fremd, und er tröstet sich mit dieser schweißtreibenden Heimwerkerei darüber hinweg. Aber ich glaube es eigentlich nicht. Das hätte ich merken müssen.
Wenn er wenigstens einen kleinen Hinweis geben würde, einen Tipp. Aber nein, kein Sterbenswörtchen kommt über seinen Lippen. Doch! Ich muss mich korrigieren. Einen besonders hartnäckigen Zeitgenossen herrschte er einmal an: „Du willst einen Tipp? Also gut. Hier hast du deinen Tipp: Wie lange kannst du Wasser treten?!“
Völlig ausgeflippt, dieser Typ! Irgend wann kamen die Leute nur noch, um sich über ihn lustig zu machen: „He, Noah, was wird das? Ein Irrenhaus für dich und deine Familie?“ – „Ein Nachbau der Titanic?“ – „Ein Zoo für ausgestorbene Tiere?“ – „Und wo kommen die Dinosaurier hin? Vorn, hinten, oder aufs Dach?“
Und dann der elende Gestank der Tiere, die Noah seit einigen Tagen hier anschleppt, immer hübsch paarweise, als habe er irgendwelche Zuchtexperimente mit ihnen vor, genetische Modellversuche. Möchte bloß wissen, wer dafür verantwortlich zeichnet, dass das alles geduldet wird. Als neustes geht die Kunde, Gott persönlich halte seine schützende Hand über Noah. Aber das halte ich für ein Gerücht.
Ich muss jetzt Schluss machen. Meine Frau ruft nach mir. Ich soll ihr helfen, die Wäsche reinzuholen. Es sieht nach Regen aus…
(aus „Ammes Märchen“, zuerst abgedruckt in der Süddeutschen Zeitung v. 6./7.2.1999)